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Holocaust-Gedenktag 27. Januar

Der 27. Januar ist jedes Jahr. Der internationale Holocaust-Gedenktag hält die Erinnerung wach, schafft Aufmerksamkeit für ein wichtiges Thema. So auch in unserer Familie.

Unsere Tochter Lea, 14 Jahre, fragt mich, ob ich ihr etwas über das Dritte Reich erzählen kann. Mach ich gerne. Auf einer Autofahrt erzähle ich, soweit ich das noch erinnere, von den Anfängen des Nationalsozialismus bis zum Beginn des Krieges. Von der Wurzeln des Antisemitismus. Von Rassenideologie, Euthanasie und nationalem Größenwahn. Zwei Tage später am Mitttagstisch folgt die Fortsetzung, die Kriegsjahre. Der ebenfalls anwesende ältere Bruder freut sich, dass er auch noch viel von dem weiß, was da berichtet wird. Und dann reden wir plötzlich über den einen Opa, der im Krieg war und in der Gefangenschaft und den anderen, der das Programm der Entnazifizierung durchlaufen hat.

Studien belegen, dass vier von zehn Schüler:innen ab 14 Jahren unabhängig von ihrer Herkunft nicht wissen, wofür Auschwitz steht. Die absolute Mehrheit der Deutschen glaubt nicht, dass ihre Vorfahren Täter oder Mitläufer waren. Wir haben es also anscheinend in unserer Gesellschaft nur mit Nachfahren von Opfern des Nazi-Regimes, heldenhaften Widerstandskämpfern oder mit Migranten zu tun.

Ein paar Tage nach unseren Geschichtslektionen kommt Lea aus der Schule mit dem Forschungsauftrag: Wer war Wernher von Braun? Mir fällt sofort unser Urlaub auf Usedom ein, bei dem wir dereinst das Raketenmuseum in Peenemünde erkundet haben.

Neben den Angeboten an Gedenkveranstaltungen, Lichtergängen, Filmen etc., die in diesem Jahr auch wieder in Präsenz angeboten werden, finde ich Spuren auf Papier spannend, das Computerspiel der Gedenkstätte Wehnen. Digital sollen die Schicksale der etwa 1500 ermordeten Patient:innen während der NS-Zeit in der Heil- und Pflegeanstalt vermittelt werden. Bestimmt ein Spagat zwischen Sensibilität und Inhaltsvermittlung Damit werde ich mich mit meiner Familie mal auseinandersetzen.

In meinem ZEIT-Kalender“Was mein Leben reicher macht“ lese ich eine Erinnerung von Gernot Flick aus Wiesbaden:
Mein Vater war Schreiner, als Meisterstück baute er ein Schlafzimmer, das in der Nazi-Zeit aber nicht anerkannt wurde. Nur „deutsches“ Holz war zulässig, er jedoch hatte als Furnier Kaukasischen Nussbaum verwendet. Sein Schrank, diese wunderbare Handarbeit, ist meine einzige Erinnerung an ihn, denn ich war noch sehr klein, als er im Krieg blieb.

Und dann landet dieser Tage ein Brief unserer ehemaligen Nachbarin Waltraud Mann in unserem Briefkasten. Sie engagiert sich seit vielen Jahrzehnten bei Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V. und war vor 20 Jahren für eineinhalb Jahren in Israel tätig. Im Rahmen ihrer Betreuungsarbeit besucht sie Alice Hausman. Im Gespräch mit der rüstigen und erblindeten Dame erzählt sie ihr, dass sie aus Kassel kommt.. Darauf erzählt Alice Hausman, dass ihre Eltern am 9. Dezember 1941 vom Kasseler Bahnhof in das Rigaer Ghetto transportiert wurden. Worauf Waltraud Mann berichtet, dass sie just an diesem Tag als kleines Mädchen mit ihrer Mutter bei der Abgabe eines Paketes am Bahnhof sah, wie man Juden über den Bahnhofsvorplatz zur Deportation führte. Für sie was das die erste und zutiefst prägende Begegnung mit der Shoah. Dann berichtet sie von einem Kunstprojekt, bei dem Schüler:innen Lebensblätter deportierter Juden erarbeiteten. Jedes Lebensblatt wurde um einen Stein gewickelt und zu einem Dokumentenkunstwerk zusammengestellt. Waltraud Mann, die vom Künstler Horst Hohesiel zum Mitmachen eingeladen worden war, bekam auch ein Lebensblatt, das von Meta Oppenheim. Als Alice Hausman das hört, wird es in ihrem Wohnzimmer plötzlich über einen längeren Zeitraum still. Das Gesicht der alten Dame bekommt einen schmerzlichen Ausdruck und sie muss weinen. Dann ruft sie: „Das war meine Mutter!“
Was für eine außergewöhnliche Geschichte! Und sie endet damit, dass Jahre später, Alice Hausman war gestorben, ihre Tochter Ruti Zurel mit ihrem Mann auf Einladung von Waltraud Mann nach Kassel kommt, mit ihr gemeinsam die Erinnerungswege der Familie Oppenheim/Hausman geht und auf dem jüdischen Friedhof das Kaddisch für ihre Verwandten, die vor der Shoa dort begraben wurden, spricht.